Der Froschkönig heute
Mai 2023

Märchen sind Spiegel ihrer Zeit, das war schon immer so und ist heute nicht anders. Damals, zu Grimms Zeiten, hatte eine Tochter ihrem Vater zu gehorchen, und man billigte der jungen Frau im Märchen offenbar so wenig Eigenständigkeit zu, dass man ihr keinen Namen geben zu brauchte. Sie war nur „die Königstochter“, mehr nicht.
Ich habe mir überlegt, wie sich das Märchen „Der Froschkönig“ heute zutragen würde. Und – wie früher – ist das Märchen nicht für die Kinder geschrieben:

Der Froschkönig

Irgendwo auf dieser Welt, so erzählt man sich, liegt ein Land, in dem es noch weise Könige gibt, gütige Königinnen und sprechende Tiere. Hier lebt eine bildhübsche Prinzessin namens Aurelia. Das Mädchen liebt es, am Teich des königlichen Gartens mit seiner goldenen Kugel zu spielen, die ihm der Vater geschenkt hat.

Eines Tages vergnügt sich Aurelia wieder mit ihrem kostbaren Spielzeug, als sich die Königin nähert.
„Unser Flieger geht in zwei Stunden, dein Vater und ich müssen los. Und du bleibst brav, ja? Diesmal keine wilden Partys, wenn wir nicht da sind, versprichst du mir das?“
Aurelia nickt gedankenverloren. „Klar, Mama.“
Sie wendet ihren Blick nicht von der Kugel, die sie mal mit der linken, mal mit der rechten Hand hochwirft.
„Und wirf deine goldene Kugel nicht gar so hoch, Aurelia“, setzt ihre Mutter stirnrunzelnd fort, „wenn du nicht achtgibst, wird sie dir aus der Hand rutschen und in den Teich fallen. Sie wird im schlammigen Grund versinken, du kriegst sie nie wieder und dein Vater wird zornig werden!“
Die Prinzessin fängt ihre Kugel auf, legt sie zu Boden, umarmt die Königin und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
„Jaja, Mama, ich gebe eh acht!“, meint sie leichthin und zuckt mit den Schultern. Dann hebt Aurelia ihr Spielzeug auf und wirft es wieder hoch. „Aber sieh nur, wie hoch ich die Kugel in die Luft werfen kann, ohne dass sie runterfällt. Hopp! Und hopp! Und hopp!“
Die Königin sieht ihre Tochter zweifelnd an. „Werde bloß nicht zu übermütig, mein Kind“, erwidert sie sanft. „Nun gut, dann lasse ich dich jetzt allein. Auf Wiedersehen, Liebes!“
Sie kehrt ins Schloss zurück, um ihre Reise anzutreten.
„Baba, Mama, Bussi! Kommt wohlbehalten wieder!“, ruft ihr Aurelia nach, dann beginnt sie erneut, die goldene Kugel hochzuwerfen und geschickt abwechselnd mit ihren Händen aufzufangen.
„Hopp!“, ruft sie. „Hopp! Und Hopp! Und … hoppla!“
Die Kugel rutscht dem Mädchen aus der Hand, fällt zu Boden und kullert in den Teich!
„Oh nein!“ Aurelia hält sich mit beiden Händen den Kopf. „Was mache ich denn jetzt?“ Sie setzt sich zornig hin und drischt mit den Fäusten ins Gras. „Mist! Mist! Mist!“
„Willst du, dass ich dir helfe, schöne Königstochter?“ Ein Frosch ist über die Seerosenblätter zu Aurelia ans Ufer gehüpft. „Ich kann dir deine Kugel zurückbringen.“
„Wirklich?“ Aurelia sieht das Tier erfreut an. „Das wäre voll nett!“
„Aber umsonst mache ich das nicht“, erwidert der Frosch. „Ich bringe dir die Kugel, und dafür nimmst du mich mit in dein Bettchen.“
Aurelia steht erschrocken auf.
„Wie bitte? Spinnst du? Ich nehm’ dich doch nicht mit in mein Bett!“ Sie kneift die Augenbrauen zusammen und funkelt empört auf den Frosch hinab.
„Wieso nicht? Magst du keine Frösche, schöne Königstochter?“, fragt das Tier schmeichelnd und legt seinen Kopf schief.
„Doch, ich mag euch kleinen Hüpfer recht gern, aber hier im Teich, nicht in meinem Bett! Und spar dir dein ‚schöne Königstochter‘, ich stehe nicht auf falsche Schmeicheleien von schmierigen Typen.“
„Dann wirst du deine Kugel leider nie wiedersehen!“, erwidert der Frosch mit sanfter Stimme.
„Ich glaub’s nicht, du erpresst mich!“, faucht Aurelia und ballt die Fäuste.
„Ich nenne das ein Geschäft“, meint der Frosch achselzuckend.
„Ein Geschäft? Ich kann dir ein paar tote Fliegen vom Turmfenster bringen, wenn du mir die Kugel aus dem Teich fischst. Das ist ein Geschäft!“ Die Königstochter stemmt ihre Arme in die Hüften und stampft zornig mit dem Fuß auf.
„Jetzt stell dich nicht so an! Wir werden es nett haben bei dir, glaub mir!“
„Ich kotze gleich! Behalte die blöde Kugel! Mein Vater ist der König, der kann mir jeden Tag eine goldene Kugel schenken, wenn er will!“, ruft Aurelia aufgebracht.
„Er wird aber sehr zornig werden“, erwidert der Frosch drohend. „Die Königin hat es gesagt! Ich habe euch dort drüben auf meinem Seerosenblatt zugehört.“
„Und du glaubst, ich nehme dich lieber in mein Bett, als mich von meinem Vater ausschimpfen zu lassen? Wie eingebildet bist du eigentlich?“ Aurelia schüttelt ungläubig den Kopf.
„Dann gib mir zumindest einen Kuss, wenn ich dir die Kugel bringe!“, bittet das Tier.
„Einen Kuss? Einen Tritt kannst du haben, wenn du willst! Und tschüss!“ Die Königstochter dreht sich zornig um und stapft los.
„Warte, schöne Königstochter!“, ruft ihr der Frosch flehend nach. „Lass mich bei dir sein, damit du mich erlösen kannst!“
Aurelia bleibt stehen. Sie dreht sich zögernd um und runzelt die Stirn.
„Erlösen?“ Die Prinzessin macht ein paar Schritte auf den Frosch zu.
„Ich bin ein Prinz, musst du wissen“, entgegnet dieser, „eine böse Hexe hat mich verwünscht und darum muss ich meine Tage im kalten Wasser und in dieser jämmerlichen Gestalt verbringen! In Wahrheit bin ich ein wunderschöner Mann und unermesslich reich, glaub mir! Wenn du sehr nett zu mir bist, werde ich erlöst sein. Und danach werde ich dich heiraten und du wirst mit mir glücklich sein bis an dein Lebensende!“
Aurelia verdreht die Augen.
„Hältst du dich echt für so unwiderstehlich? Ich heirate immer noch, wen ich will! Eine Hexe hat dich verzaubert? Das geschieht dir recht, da bist du endlich mal an die Falsche geraten! Das war sicher keine böse Hexe, sondern eine gute Fee! Sie hat dich verwünscht, weil du ihr mit denselben blöden Sprüchen gekommen bist wie mir. Lebe weiter dein armseliges Leben als verzauberter Frosch, mir reicht es, ich hab genug von dir!“
Das Mädchen dreht sich um und läuft davon. Der Frosch ruft ihr nach, aber die Prinzessin hört ihm nicht mehr zu.

Da tritt eine Gestalt aus dem Wald und nähert sich.
„Ach, Majestät! Ihr wolltet doch das nächste Mal höflich und zurückhaltend sein! Mit eueren forschen Worten werdet ihr nie erlöst werden, mein Prinz, und ich muss bis an mein Lebensende traurig sein!“ Der Alte seufzt tief und lässt die Schultern hängen.
„Schweig, Heinrich, du bist mein Diener, nicht mein Berater“, entgegnet der Frosch unwirsch. Und mit lautem ‚Platsch‘ springt er ins Wasser.
Der treue Heinrich sieht ihm betrübt nach und schüttelt den Kopf. „Der wird sich nie im Leben ändern“, flüstert er resigniert und geht sinnierend in den Wald zurück.

Der Froschkönig

 

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